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Titel
Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän


Autor(en)
Renn, Jürgen
Erschienen
Berlin 2022: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
1.072 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Wessely, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen, Leuphana Universität Lüneburg

Die Vorstellung, in einer krisenhaften Epoche zu leben, prägt das gesellschaftliche Selbstverständnis unserer Gegenwart. Längst bezeichnen Krisen nicht mehr einzelne Ereignisse, Ausnahmen oder Übergänge – Momente der Entscheidung, in denen eine Änderung zum Besseren oder zum Schlechteren eintritt und auf die in der Regel wieder eine ruhige Phase folgt. Vielmehr scheint die Krise nun ein auf Dauer gestellter Zustand zu sein, wobei die ökologische Krise heraussticht, indem sie Klimawandel, Verlust der Biodiversität und eine allgemeine Ressourcenverknappung in einem zusehends katastrophisch divergierenden Weltlauf zusammenfasst. Das Primat der ökologischen Superkrise zeigt sich zumal, wenn sie als ‚Anthropozän‘ gleich auf ein ganzes Erdzeitalter ausgeweitet wird.

Angesichts dieser Lage sehen sich auch die Geisteswissenschaften verstärkt genötigt, ihre Rolle zu überdenken und ihre Relevanz neu zu behaupten. Sie hätten, wie man gegenwärtig vermehrt hört, eine moralische und politische Verantwortung, die ihnen bereits seit ihren Anfängen nachgesagte Welt- und Gegenwartsferne zugunsten zukunftsorientierter Einmischung aufzugeben.

Mit seinem nun auch auf Deutsch publizierten Buch Die Evolution des Wissens, das zunächst 2020 auf Englisch bei Princeton University Press erschienen war, schreibt Jürgen Renn nun auch die Wissenschaftsgeschichte – die Disziplin also, die er seit seinem 1994 angetretenen Direktorat am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin überaus prominent vertritt – in diesen Diskurs ein: Das Anthropozän sei für eine Geschichte des Wissens nichts weniger als „der letztgültige Kontext“ (S. 9) und gleichzeitig die Nagelprobe für ihre (zukünftige) Bedeutung.

Für Jürgen Renn ist das Anthropozän dabei nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie Gegenstand (wissens-)historischer Reflexion, der auf seine ‚Gemachtheit‘, seine politischen und kulturellen Dimensionen oder die damit verbundenen Politiken des Epochemachens hin untersucht wird; vielmehr bildet es für ihn die historische Konstellation, der sich die Menschheit im Allgemeinen und die Wissenschaft im Besonderen mit vereinten Kräften zu stellen hätten.

Obwohl das neue erdgeschichtliche Zeitalter nicht zuletzt epistemische und damit in den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaftsgeschichte fallende Fragen aufwirft, „weil unser Dilemma im Anthropozän auch ein Resultat des Wissens ist, das menschliche Gesellschaften über Jahrtausende angehäuft haben“ (S. 302), macht die Disziplin laut Renns Diagnose dabei bislang keine gute Figur: „Während wissenschaftliches und technisches Wissen unseren Alltag dominieren und das Überleben der Menschheit im Anthropozän von einer umsichtigen Umsetzung wissenschaftsbasierter Lösung abhängt, trägt der gegenwärtige Mainstream der Wissenschaftsgeschichte kaum etwas zu diesen Diskussionen bei. Wie können wir das ändern?“ (S. 23)

Die Evolution des Wissens stellt den Versuch einer umfangreichen Beantwortung dieser Frage dar. Die Wissenschaftsgeschichte müsse, wie Renn argumentiert, aktiv und engagiert „an denjenigen tagtäglichen Anstrengungen mitwirken, deren Ziel es ist, das Anthropozän in eine lebenswerte Umwelt für die Menschheit zu verwandeln“ (S. 24). All das könne allerdings nicht mittels „reflexive[r] Übung[en] im Schutze des Elfenbeinturms“ (ebd.) erreicht werden. Man hätte sich gewünscht, dass ein solches Plädoyer – ob man sich ihm anschließen möchte oder nicht – ohne die Mobilisierung des reichlich abgegriffenen Bildes des Elfenbeinturms ausgekommen wäre, waren es doch vor allem auch wissenschaftshistorische Forschungen, die die Vorstellung der weltfernen und anwendungsfeindlichen Geisteswissenschaften sorgfältig widerlegt haben, wobei überaus erhellende Arbeiten zur Praxeologie der Geisteswissenschaften und ihrer gesellschaftlichen „Anwendungen“ nicht zuletzt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte durchgeführt wurden.

Die methodischen und theoretischen Konsequenzen, die mit einer an den Herausforderungen unserer Gegenwart orientierten Wissenschaftsgeschichte verbunden sind, legt Renn in aller Klarheit offen: Eine entlang von epistemischen Dingen erzählte Geschichte des Wissens sei dafür ebenso ungeeignet wie die Dekonstruktion der großen, traditionellen Erzählungen und die kleinteiligen, von der Akteur-Netzwerk-Theorie geprägten Wissenschaftsstudien, die nicht nur menschlichen, sondern auch nichtmenschlichen Akteuren agency zuweisen. Gegen diese Positionen macht Renn eine wesentlich größer dimensionierte, dezidiert humanistische Wissenschaftsgeschichte stark, die der sozialen und der ökonomischen Dimension des Wissens besondere Beachtung schenkt, die im Verbund mit anderen Wissenschaftsdisziplinen agiert und die vor allem als Teil einer zeitlich wie räumlich viel breiter bemessenen Geschichte menschlichen Wissens verstanden werden soll.

Es wäre angesichts dieser methodischen Perspektivierung reizvoll gewesen, diese Geschichte konsequent aus der Perspektive einer materialistischen Wissenschaftsgeschichte zu erzählen (und eine solche damit neu zu entwickeln), denn Jürgen Renn legt eine Reihe von Fährten, die in diese Richtung weisen und zu den interessantesten Aspekten des Buches zählen: So ist Die Evolution des Wissens, wie in der als „Geschichte dieses Buches“ überschriebenen Einleitung ausführlich dargestellt wird, auch zu verstehen als Ergebnis eines jahrzehntelangen Gesprächszusammenhanges. Dieser Gesprächszusammenhang hatte zwar „mit der sonstigen Wissenschaftsgeschichte in Deutschland und der Welt nichts zu tun“1, wie sich Wolfgang Lefèvre erinnert, einer der daran beteiligten Wissenschaftler, war allerdings für die Formierung von Renns Verständnis der Wissenschaftsgeschichte laut eigener Aussage von unschätzbarer Bedeutung. Im Zentrum dieses Austausches standen dabei nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich Intellektuelle, deren Verständnis einer historischen Epistemologie am dialektischen Materialismus geschult war oder ist: Peter Damerow, Peter McLaughlin und Wolfgang Lefèvre gehörten ebenso dazu wie Gideon Freudenthal oder der fast vergessene Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, dessen Gesamtwerk vom ça ira-Verlag herausgegeben wird. Jürgen Renns Buch kommt das große Verdienst zu, diesen Autoren einen prominenten Platz eingeräumt zu haben und so zu einer (Re-)Lektüre ihrer Texte im Zusammenhang mit den „Vergessene[n] Traditionen der Wissenschaftsgeschichte“ einzuladen, denen im Buch ein Exkurs gewidmet ist (S. 132–136). Angesichts des sich intensivierenden Interesses an der jüngeren Geschichte der Wissenschaftsgeschichte im Kontext der politischen Umbrüche nach 1989 und der in den 1990er-Jahren an Fahrt aufnehmenden Karriere der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum, die mit der Verdrängung der historisch-materialistischer Epistemologien einherging, ist diese Einladung, von der sich manch eine Leserin gewünscht hätte, sie wäre ausführlicher ausgefallen, von großem Interesse.

Die Evolution menschlichen Wissens wird in fünf Schritten nachgezeichnet, denen die fünf Hauptteile des Buches entsprechen: Teil eins behandelt den „Doppelcharakter des Wissens“, also „die Macht, die es uns verleiht, ebenso wie seine problematischen, zum Teil unbeabsichtigten Folgen“ (S. 75). Teil zwei widmet sich der historischen Natur des Denkens (wobei der Erläuterung der Entstehung abstrakter Begriffe besondere Bedeutung zukommt) sowie der Frage, welche Architektur unterschiedliche Wissenssysteme aufweisen und welchen Dynamiken diese unterworfen sind. In Teil drei diskutiert Renn den für ihn zentralen Begriff der „Wissensökonomie“, mit dem er „die Verschränkung von Gesellschaft und Wissen“ (S. 303) bezeichnet. Teil vier ist den Zirkulations- und Globalisierungsprozessen von Wissen gewidmet, wobei die Geschichte der Globalisierung des Wissens als eine sehr lang zurückreichende erzählt und mit den vielfältigen Ursprüngen der Naturwissenschaften in Zusammenhang gebracht wird. Kapitel fünf schließlich umfasst das zukunftsorientierte Programm der bereits im Untertitel angekündigten „Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän“.

Ganz klar wird dabei das Verhältnis zwischen der Wissenschaftsgeschichte und jener Wissenschaft im Singular nicht. Lautet die Kernaussage jener Neubestimmung, dass „die Wissenschaft wieder an den Herausforderungen der Menschheit“ ausgerichtet werden müsse (S. 802), erscheint die Wissenschaftsgeschichte, an die Renn dieselbe Forderung stellt, als Teil dieser einen, integrativen Wissenschaft. Wissenschaftshistorische Forschung wäre dann nicht länger als eine Kritik der Wissenschaft(en), ihrer Narrative und Praktiken, ihrer Repräsentationen, ihrer Begriffe und Historiographien zu verstehen. Sie würde – und sollte, folgt man Renn – ihre Distanz zur Wissenschaft vielmehr zugunsten eines geteilten Zieles aufgeben, um der gemeinsamen globalen Verantwortung gerecht zu werden. Wie ein solches Anschmiegen an die – mit Max Horkheimer gesprochen – „traditionelle Theorie“ zu den von Jürgen Renn wiederholt aufgerufenen Traditionslinien einer materialistischen Wissenschaftsgeschichte passt, bleibt leider offen.

Fest steht jedenfalls, dass ein solches Programm, das mit dem Plädoyer endet, in Zukunft vermehrt „nach den eschatologischen Dimensionen der Wissenschaft […] Ausschau [zu] halten“, also nach ihrem Vermögen, Vorstellungen der Heraufkunft einer kommenden Welt zu konkretisieren und damit deren „Orientierungsrolle als Wegweiser in einer bedrohten Welt, deren Zukunft von ihr abhängt, [zu] stärken“, tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der gegenwärtigen Wissenschaftsgeschichte bedeuten würde – nicht zuletzt, weil es das Verhältnis zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaften grundlegend neu sortiert. Für Wissenschaftshistoriker:innen dürfte das Buch genau als diese (mitunter provokante) Standortbestimmung von Interesse sein, derer das Fach nach dem großen Boom der 1990er- und 2000er-Jahre und der Integration wissenschaftshistorischer Perspektiven in so gut wie alle geisteswissenschaftlichen Fächer bedarf. Ob dessen Zukunft tatsächlich in einer den harten Wissenschaften beistehenden, anwendungsorientierten Hilfswissenschaft liegen wird – denn dass der Wissenschaftsgeschichte in Renns Entwurf nur diese Funktion bei der Lösung der großen Herausforderungen der Menschheit zukommen wird, scheint trotz der Behauptung ihrer großen Relevanz recht klar –, bleibt abzuwarten.

Anmerkung:
1 Mathias Grote / Anke te Heesen / Wolfgang Lefèvre, Bausteine zu einer Oral History der Wissenschaftsgeschichte. Wissenschaft als Arbeitsprozess. Interview mit Wolfgang Lefèvre, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 45 (2022), S. 265–280.

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